II.5.5. Die Chronik des Wilhelminismus
Die historischen Romane des erfolgreichsten Autors auf diesem Gebiet, Ludwig Ganghofer, geben geradezu vorbildlich die Problematik
der wilhelminischen Epoche wieder. Ganghofer schreibt in Form von historischen Romanen die Chronik Berchtesgadens
vom frühen Mittelalter bis ins 18.Jahrhundert. Die Idee dazu geht wahrscheinlich auf eine Anregung Gustav Freytags zurück,
der in seinen "Ahnen" eine deutsche Familie im Lauf der Geschichte verfolgt hat(267). Es soll hier nur auf die ersten sechs
dieser Romane eingegangen werden: "Der Klosterjäger"(1893), "Die Martinsklause"(1894), "Das Gotteslehen"(1899), "Das
neue Wesen" (1902), "Der Mann im Salz"(1905), "Der Ochsenkrieg"(1914), "Die Trutze von Trutzberg"(1915)(268). Das Hauptinteresse gilt
dabei den sozialen Konfliktsituationen und Ganghofers Lösungsangeboten sowie der dargestellten historischen Entwicklung.
"Diese Gefahr ist größer, als ihr glaubt. Was unseres Volkes wartet, ist der Kampf um sein Leben. Der Bauch von Frankreich möchte wachsen bis an den Rhein und deutsches Land verschlingen. Im Osten droht uns der Türkenschreck, hinter dem uns kommen wird, ich weiß nicht was. Im Süden kocht der alte Groll aus einer Zeit, in der wir dort unten die Herren waren. Von allen Seiten rückt die Gefahr auf uns ein. Und Deutschland hat keinen Freund in der Welt, nur Feinde. Wir müssen unsere zerfahrenden Kräfte sammeln, wenn uns nicht die kommenden Zeiten zerreiben sollen zu Mehl und Futter für andere Völker. Das Vorgefühl dieser Gefahr ist in allem deutschen Volk. Wer soll uns schützen? Die deutsche Ritterchaft? Sie hat ihre Macht verloren. Das schwarze Körnlein, das den Tod durch Panzer und Mauern wirft, hat ihre Kraft gebrochen. Eine neue Kraft muß heranwachsen, um das Reich zu schützen."Schöttingen fordert außerdem noch eine neue Kirche: "Aber frei muß sie werden, frei von Rom, das immer ein Feind des deutschen Gedankens war. Die Fürsten im Norden haben das verstanden. Eine Fülle von Kraft wird ihnen erwachsen aus dieser freien Gemeinschaft von Thron und Kirche."(271)Die preußisch-konservative Botschaft wird hier ganz unverschlüsselt ausgesprochen. Doch die große Chance, das Reich zu reformieren, wird verpaßt, weil die Herren ihre Fürstenpflicht versäumen, und weil den Bauern "der eigene Löffel mehr gegolten hat als die Schüssel der Gemeinschaft"(272). Der Roman endet mit vom väterlichen Frundsberg erzwungenen Reformen. Der Bauernsohn Juliander kann schließlich trotz allem seine Räppli - eine Ritterstochter - heiraten und tritt in Frundsbergs Dienst, um für das Reich zu kämpfen. Das Hauptthema des Romans "Der Mann im Salz"(1905) ist die Auseinandersetzung zwischen Fortschritt und Aberglauben. Kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg finden im Salzburger Gebiet größere Hexenverfolgungen statt; nur in Berchtesgaden ist es dem aufgeklärten Dekan von Sölln bisher gelungen, Hexenverfolgungen zu verhindern. Ein junger Jäger - Adelwart - tritt in den Dienst des Klosters und arbeitet als Hauer im Salzbergwerk. Dort versucht er als erster in einem deutschen Bergwerk eine Sprengung, wobei er allein so viel Salz löst, wie sonst hundert Hauer an einem Tag. Bei der Sprengung wird im Salz ein haariger Urmensch entdeckt, den das abergläubische Volk für den Teufel hält. Dieser "Teufel", die neuartige Technik und die Hetzpredigten eines Dominikanerpaters schüren nun auch in Berchtesgaden den religiösen Fanatismus. Bald kommt es zum ersten Hexenprozeß. Da auch der Dekan gegen die neue Welle des Aberglaubens machtlos ist, muß Adelwart die von ihm geliebte und der Hexerei beschuldigte Madda befreien und mit ihr Berchtesgaden verlassen. Am Ende des Romans begegnen sie spanischem Kriegsvolk, das nach Böhmen zieht. Der Dreißigjährige Krieg kündigt sich schicksalsschwer als blutroter Sonnenaufgang an. Da bei Ganghofer immer eine unmittelbare Identifikation des Lesers mit den Protagonisten angestrebt wird, kann man die Frage nach der historischen Entwicklung am besten daran verfolgen, wie sehr die Hauptpersonen ihr privates Glück verwirklichen können. Wichtig erscheint auch noch deren Verhältnis zur Obrigkeit. Unter diesen Gesichtspunkten ergibt sich folgendes: Im 12.Jahrhundert - "Martinsklause" - wird zwar auf das Happy-End verzichtet,aber immerhin wird die tyrannische Herrschaft durch die gute abgelöst; der Leser kann auf bessere Zeiten hoffen. Diese gute Herrschaft endet im 13.Jahrhundert, dargestellt im "Gotteslehen". Als der alte, gütige Abt stirbt, bleibt unter dem machtgierigen neuen Herrn nur noch die Flucht in den Tod. Das 14.Jahrhundert -"Klosterjäger" - zeigt die behaglichste Idylle, ganz im Gegensatz zur allgemeinen Lage in dieser Zeit(273). Die Welt ist in Ordnung, der Patriarch sorgt mit Hilfe Gottes für das Wohl der Untertanen. Der "Ochsenkrieg" stürzt im 15.Jahrhundert eine ganze Landschaft in einen zerstörerischen Krieg. Nach bewiesener Treue und persönlichen Verlusten findet jedoch auch hier das junge Paar zusammen. Für das 16.Jahrhundert wird zwar eine Krise aufgezeigt, sie dient aber nur als Mahnung, soziale Reformen durchzuführen, denn für die Hauptpersonen geht alles gut aus. Ordnet man Ganghofers Romane also nach den dargestellten historischen Zeitabschnitten, läßt sich kein Sinn in dieser Reihe entdecken. Die Entwicklungslinie wird jedoch sichtbar, wenn man die Romane nach den Erscheinungsjahren ordnet. Dann wird die heile Welt vom "Klosterjäger"(1893) über die "Martinsklause "(1894) bis zum "Gotteslehen"(1899) demontiert. Diese Entwicklung entspricht den sozialen Konflikten der neunziger Jahre, den Landwirtschaftskrisen und der allgemeinen Kulturkritik. Mit der Phase des Imperialismus erfolgt dann im "Neuen Wesen"(1902) der Ruf nach ausgleichender Sozialgesetzgebung, um die notwendige innere Stärke gegen den äußeren Feind zu gewinnen. Im "Mann im Salz"(1905) ist Ganghofer ganz auf der Welle des technikbegeisterten Fortschrittsoptimismus. Nicht mehr der bedrohte Bauer, sondern der findige Ingenieur steht im Mittelpunkt des Romans, Aberglauben und religiöser Fanatismus gelten als fortschrittshemmend. Kurz vor dem Weltkrieg erscheint der "Ochsenkrieg". Der Krieg ist unvermeidlich, es bleibt nur die Treue zum Herrn: Aller Hader und Steuerzank zwischen dem Volk der Stadt und seinen Fürsten ist vergessen. Volk und Fürsten sind in dieser Stunde der Gefahr verwachsen zu einem Körper, der sich grimmig und erbittert seiner Ehre und seines Lebens. (274)An dieser Stelle wäre noch auf den nicht zu dieser Reihe gehörenden Roman "Die Tutze von Trutzberg"(1915) zu verweisen. Während einer mittelalterlichen Fehde bewährt sich der Schäfer Lien derart, daß er eine Ritterstocher heiraten darf. Ganghofers politische Vorstellungen sind die eines der preussisch-konservativen Ideologie nahestehenden Bürgers. Das Reich ist fast immer gleichbedeutend mit Deutschland, oft von äußeren Feinden bedroht und durch die Uneinigkeit von Ländern und Klassen geschwächt. So ist auch die ideale Staatsvorstellung die eines monarchistisch-patriarchalischen Staates, in dem die Fürsten ihren Verpflichtungen nachkommen. Die wirklichen Herren gehören immer zum Geburtsadel.Ganghofer beschreibt zwar herausragende Einzelne aus dem Volk, aber auch sie sind ihren Herren treu ergeben. Gesellschaftlicher Aufstieg ist allerdings durch treue Dienste möglich und wird dann durch die Heirat mit einer Ritterstochter besiegelt. Die Einstellung zur Kirche ist protestantisch gefärbt. Selbst die mittelalterlichen Pröbste denken national(275). In dieses Schema paßt auch der Leutpriester Hiltischalk in der "Martinsklause", und daß im "Ochsenkrieg" Jan Hus in die Ahnenreihe der Reformation aufgenommen wird(276). In ähnlicher Weise, wie Ganghofer protestantische Positionen in die Geschichte hineindichtet, verweist er auch lobend auf die Vorfahren der Hohenzollern(277). Ganghofers Ablehnung der römisch-katholischen Kirche ist allerdings frei von völkischer Germanentümelei. Ähnlich wie in Freytags "Ahnen" wird bei ihm das barbarische Heidentum durch das historisch fortschrittlichere Christentum abgelöst(278). Auch Ganghofers Bauern zeigen seine Distanz zur völkischen Ideologie. Ihnen fehlt die biologische Vitalität. Innerhalb der Romane dienen sie fast nur zur Dekoration, während sich die Handlung an bürgerliche Individuen knüpft. Diese schönen und treuen Menschen sind selbstverständlich auch tapfere Kämpfer, aber keine wirklichen Krieger und schon gar keine finsteren Hagengestalten.(279). Dem Rassegedanken scheint Ganghofer völlig fern zu stehen. Im "Gotteslehen" findet man die positive Beschreibung eines jüdischen Arztes : "Sein Gang war aufrecht, seine Auge ruhig, und freundliche Milde hatte den herben Ernst seiner Züge gelöst" (280). Dieser Jude wird vom abergläubischen Volk zu Unrecht verfolgt und mißhandelt. Auch Dahns Blondheitskult wird von Ganghofer eher umgekehrt, indem der germanisch-südländische Mischling - in der völkischen Literatur ein Negativtopos - oft positiv besetzt wird. Bei den Frauengestalten zieht er den dunklen Typus eindeutig vor: Im "Klosterjäger" steht der reinen, dunklen Gittli die blonde, sinnliche Zenza gegenüber, die Mutter des schwarzhaarigen Räppl im "Neuen Wesen" hat der Vater aus Italien mitgebracht, und Madda im "Mann im Salz" ist sogar italienischer Abstammung(281). Rassistische Vorstellungen sind allenfalls im trivialen Muster zu erkennen, nach dem die Guten immer schön sind, während den Bösen ihre Schlechtigkeit ins Gesicht geschrieben steht(282). Vor allem im Vergleich mit der völkischen Literatur wirken Ganghofers Romane, trotz allem Patriotismus, noch sehr gemäßigt. Anstelle von Aggressivität und Heroismus dominiert bei ihm die bürgerliche Idylle. Daß die Kampfbeschreibungen kontinuierlich zunehmen, belegt auch bei ihm die Militarisierung des Genres (283). Was Ganghofer jedoch wesentlich von seinem Vorgänger Freytag unterscheidet und den Wandel im bürgerlichen Geschichtsverständnis verdeutlicht, ist der willkürliche Zugang zur Geschichte. Er stellt nicht mehr kontinuierlich eine historische Entwicklung dar, sondern greift einzelne Zeiträume heraus, die er dann unter dem Eindruck zeitgenössischer Tendenzen nach Bedarf ausstaffiert. © Frank Westenfelder
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